HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Pierre-Robin-Sequenz, eine seltene Erkrankung
Als Folge der Pierre-Robin-Sequenz, der seltenen Erkrankung unseres Kindes Lysiane, leidet diese an drei orofazialen (Mund und Gesicht betreffenden) Fehlbildungen:
- Mikrognathie: ein zu kleiner, unterentwickelter Unterkiefer und Retrognathie: die abnormale Rückverlagerung ihres Unterkiefers im Verhältnis zur Schädelbasis;
- Glossoptose: das abnormale Zurücksinken der Zunge und deren vertikale Positionierung in Richtung des hinteren Rachens, das ihren Pharynx und die Atemwege blockiert;
- Eine weiche Gaumenspalte, die entstand, als ihre Zunge während der pränatalen Entwicklung in einer zurückgezogenen und vertikalen Position in Richtung der Rückseite ihres Rachens verweilte.
In informeller Sprache bedeutet Mikrognathie, dass Unterkiefer und Kinn des Kindes sehr klein sind; Retrognathie ähnelt einem schweren „Überbiss“. Eine weiche Gaumenspalte bedeutet, dass sich im weichen, hinteren Gaumen ein kleines Loch befindet. Der zweite Fachbegriff, Glossoptose, ist etwas schwieriger zu visualisieren. Da es sich jedoch bei der Glossoptose um eine Missbildung handelt, die die Gesundheit und Entwicklung eines Kindes mit Pierre-Robin-Sequenz generell am meisten gefährdet, lohnt sich eine genauere Beschreibung dieses Umstands.
Normalerweise liegt die Zunge horizontal flach auf dem Mundboden. Bei einem Kind, das unter Glossoptose leidet, verweilt die Zunge gebündelt im hinteren Teil des Mundes und wird damit fast senkrecht angehoben. In der folgenden Abbildung stellt das große rosafarbene/rote Objekt die Zunge des Babys dar.

Bei der Betrachtung des obigen Bildes kann man deutlich erkennen, warum diese Zungenposition so gefährlich ist. In dieser Stellung wird der Pharynx (oberer Luftweg) des Kindes fast vollständig blockiert. Wenn also ein Säugling mit Pierre-Robin-Sequenz zu atmen versucht, ist nicht nur die Panik auf dem Gesicht des Kindes sichtbar. Man kann auch hören, wie die Zunge die oberen Atemwege des Kindes blockiert, wenn es ums Luftholen kämpft oder darum, die Milch herunterzuschlucken.
Die Krankenakten aus Lyon weisen auf eine gefährliche und schwierige Geburt mit einem Apgar-Score von 1/4/8/8 hin. Ein Apgar-Score von „0“ ist gleichbedeutend mit dem Tod. Lysiane wurde mit einem Apgar-Wert von „1“ auf einer Skala von 1 bis 10 geboren. Zu den ersten Reanimationsmaßnahmen gehörte die manuelle Beatmungsunterstützung. Diese scheiterte jedoch, so dass Lysiane in ihrer 3. Lebensminute eine Larynxmaske erhielt. In ihrer 29. Lebensminute wurde Lysiane intubiert – ein Schlauch wurde in ihren Mund und durch ihre Atemwege eingeführt und mit einem Beatmungsgerät verbunden, welches Luft in ihre Lungen pumpte. Daraufhin wurde sie auf die Reanimationsstation für Neugeborene verlegt („Réanimation Néonatale“), die für das Croix-Rousse-Krankenhaus die höchstmögliche Notfallversorgung für Neugeborene in lebensbedrohlichen Situationen bietet. Laut der französischen Krankengeschichte („Résumé de Séjour“) litt Lysiane an Atemnot infolge der Inhalation klaren Fruchtwassers sowie an einer Obstruktion der oberen Atemwege in Folge der Pierre-Robin-Sequenz („ILAC + obstructive sur séquence de Pierre Robin“).
An ihrem zweiten Lebenstag wurde Lysiane extubiert. Nach 6 Tagen auf der Reanimationsstation für Neugeborene konnte Lysianes Zustand stabilisiert werden und man verlegte sie auf die Intensivstation („Soins Intensifs“).
Auf der Intensivstation bestand die Behandlung der Obstruktion der oberen Atemwege und der Atembeschwerden darin, Lysiane beim Schlafen auf den Bauch zu legen. Vom Bauchschlaf wird bei gesunden Babys dringend abgeraten, da zahlreiche medizinische Studien ein fünf- bis zehnmal höheres Risiko für plötzlichen Kindstod bestätigen. Auf der Intensivstation wurde uns gesagt, Zweck des Bauchschlafs wäre, dass das Gesicht des Kindes, das an Pierre-Robin-Sequenz leidet, beim Schlafen nach unten gerichtet ist. Damit wird erreicht, dass die Zunge im Mund nach vorne und nicht in den Rachen fällt, was die obere Atemwegsobstruktion des Pierre-Robin-Sequenz-Babys vorübergehend erleichtert. Lysianes Bauchschlaf wurde von medizinischen Geräten überwacht, vermutlich um die Gefahren des plötzlichen Kindstods zu begrenzen.
Trotz der Bauchlage litt Lysiane weiterhin unter Atembeschwerden und Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme. Die Krankenakte weist darauf hin, dass Lysiane an einer Ermüdung der Atemwege, Kampfanzeichen, Hyperkapnie (anormal hohe Kohlendioxidwerten im Blut) und Entsättigung (anormal niedrige Sauerstoffwerte im Blut) litt („fatigue respiratoire avec signes de lutte et hypercapnie“; „désaturations avec signes de lutte“). Lysiane musste deswegen nach weniger als einer Woche auf der Intensivstation, aufgrund ihrer anhaltenden Atembeschwerden, erneut an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden. Lysiane wurde über Schläuche an High-Flow-Beatmungsgerät angeschlossen. Dieses Beatmungsgerät half ihr, besser zu atmen und gewährleistete ausreichende Sauerstoffmengen, wodurch das Risiko einer Hirnschädigung, durch wiederholte Sauerstoffentsättigung, verhindert wurde.
Lysiane kam nie nach Hause. Sie wurde im Croix-Rousse-Krankenhaus geboren und blieb fortan auf dessen Intensivstation am High-Flow-Beatmungsgerät angeschlossen – ohne Aussicht auf Entlassung. Dies setzte sich fort, bis wir, Lysianes Eltern, uns letztlich dazu entschlossen, das Leben und die Gesundheit unseres Kindes in die eigenen Hände zu nehmen, und sie aus Frankreich nach Deutschland zu überführen. In Deutschland, am Uniklinikum Tübingen, erhielt Lysiane am 2. Mai 2017 die hochspezialisierte, medizinisch nachgewiesene TGP-Behandlung für ihre seltene Krankheit Pierre-Robin-Sequenz.
Die von uns gewünschte TGP-Behandlung – eine Einführung in die TGP-Behandlung
Wir, Lysianes Eltern, wollten, dass Lysiane für ihre seltene Erkrankung eine bestimmte medizinische Behandlung erhält: die TGP-Behandlung. Die TGP-Behandlung ist die einzige, derzeit verfügbare Behandlungsmethode der Pierre-Robin-Sequenz, bei der die Obstruktion der oberen Atemwege des Kindes beseitigt und gleichzeitig die zugrundeliegende, anatomische Ursache – die Glossoptose – ohne operativen Eingriff behoben wird. Die Tatsache, dass die TGP-Behandlung die Obstruktion der oberen Atemwege des Babys beseitigt und ihre zugrunde liegende anatomische Ursache, die Glossoptose, korrigiert, unterscheidet die TGP-Behandlung grundlegend von der Beatmungsunterstützung, die Lysiane in ihren ersten fünf Lebenswochen erhielt.
Hier ein Foto mit einem Beispiel einer Tübinger Gaumenplatte:

Nachfolgend sehen Sie eine Abbildung, die die Funktionsweise der TGP veranschaulicht. Das große rosafarbene/rote Objekt stellt die Zunge des Babys dar. In der Querschnittansicht links hat der Pierre-Robin-Sequenz-Patient keine TGP. Hier blockiert die abnormale, hintere Position der Zunge die oberen Atemwege und was zu potenziell lebensbedrohlichen Atem- und Nahrungsaufnahmestörungen führt. In der Abbildung rechts wurde die TGP eingesetzt, die durch eine dunkelblaue Linie dargestellt ist. Diese Linie beginnt an den oberen Alveolarkämmen (dort, wo schließlich die oberen Schneidezähne wachsen), verläuft entlang des oberen Gaumens, bedeckt die Gaumenspalte und erstreckt sich dann nach unten. Im rechten Bild auf der rechten Seite, können wir diese nach unten tauchende, dunkelblaue Linie sehen, wie sie die Unterseite der Zunge nach links in Richtung der Vorderseite des Mundes drückt. Durch dieses nach vorne Schieben der Zunge wird der Rachen mit Hilfe der TGP sofort befreit – ohne chirurgische Eingriffe.
Auf der linken Seite: ohne die TGP; auf der rechten Seite: mit der TGP

Die TGP-Behandlung stellt eine medizinische Innovation dar, die im Fachbereich Kieferorthopädie des Universitätsklinikums Tübingen entwickelt wurde. Sie wird durch das Interdisziplinäre Zentrum für Kraniofaziale Missbildungen bereitgestellt, welches mehrere Krankenhausabteilungen umfasst: Kieferorthopädie, Kraniofaziale Chirurgie und Neonatologie. Vorsitzender des Interdisziplinären Zentrums für Kraniofaziale Fehlbildungen ist Professor Dr. Christian Poets. Dr. Poets ist außerdem Koordinator des hochspezialisierten Pierre-Robin-Sequenz-Wissenszentrums am Tübinger Universitätsklinikum, welches offiziell von der Orphanet-Datenbank als Kompetenzzentrum für Pierre-Robin-Sequenz anerkannt wird. Wir, als Eltern eines Kindes, das an Pierre-Robin-Sequenz leidet, lasen uns sorgfältig mehrere von Dr. Poets und seinen Kollegen veröffentlichte TGP-Studien durch und traten schließlich direkt in Kontakt mit Dr. Poets, um mehr über die TGP-Behandlung zu erfahren.
Anfrage der TGP-Behandlung: Unsere Bemühungen mit Dr. Abadie und anderen Ärzten
Gemäß der Richtlinie 2011/24 / EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, sollte ein EU-Bürger, der eine geplante, grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung mit Krankenhausaufenthalt anstrebt, eine Vorabgenehmigung in seinem Versicherungsmitgliedstaat (d.h. dem Land, in dem der Patient lebt) beantragen und genehmigt bekommen, bevor der Patient die grenzüberschreitende Behandlung erhält. Wenn der Patient an einer seltenen Erkrankung leidet, muss ein anerkannter Experte für diese seltene Krankheit dem Patienten in Form eines Attests bescheinigen, das die Wirksamkeit der vorgeschlagenen, grenzüberschreitenden Behandlung und die Nichtverfügbarkeit der vorgeschlagenen Behandlung im Krankenhaus des Mitgliedsstaat des Patienten bestätigt. Ein Patient mit seltener Erkrankung muss daher, im Rahmen des Antragsverfahrens, diesen Prozess in Gang setzen, indem er einen dieser anerkannten Experten in einem für die seltene Krankheit ausgewiesenen Kompetenzzentrum konsultiert.
Artikel 13(a) der Richtlinie von 2011 führt offiziell die Orphanet-Datenbank der EU an, die europaweit Kompetenzzentren für jegliche seltene Erkrankungen auflistet.
In der Orphanet-Datenbank war kein Kompetenzzentrum für die seltene Erkrankung Pierre-Robin-Sequenz in Lyon zu finden. Die Tatsache, dass in Lyon kein Kompetenzzentrum vorhanden ist, kann durch einen Besuch der nachfolgenden Orphanet-Webseite nachgeprüft werden:
http://tinyurl.com/pierre-robin-europe
Da, wie bereits erwähnt, in Lyon kein Kompetenzzentrum für Pierre-Robin-Sequenz zur Verfügung steht, kontaktierten wir also das Hauptkompetenzzentrum am Necker-Krankenhaus in Paris. Der folgende Link zur Orphanet-Webseite bestätigt, dass Orphanet das Pierre-Robin-Zentrum am Necker-Krankenhaus in Paris als Referenzzentrum für Pierre-Robin-Sequenz in ganz Frankreich identifiziert:
http://tinyurl.com/pierre-robin-europe
Das Referenzzentrum am Necker-Krankenhaus wird von Dr. Véronique Abadie geleitet.
Am 7. April 2017 schickten wir Dr. Abadie eine E-Mail mit der Anfrage, ob die TGP-Behandlung in Frankreich verfügbar ist, und – falls die TGP-Behandlung in Frankreich nicht verfügbar ist – sie das von uns benötigte ärztliche Attest ausschreiben würde, damit wir unseren Antrag bei der L’Assurance Maladie stellen und diese grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung in Deutschland erhalten konnten. Diese von uns am 7. April an Dr. Abadie gerichtete E-Mail war sowohl detailliert, als auch klar und ließ keinen Raum für Missverständnisse:
„Deshalb möchten wir Sie fragen:
1. Ist die „Tübinger Gaumenplatte (TGP)“ in Frankreich verfügbar?
2. Wenn die „Tübinger Gaumenplatte (TGP)“ in Frankreich nicht verfügbar ist, wäre es möglich, uns ein entsprechendes Referenzschreiben zukommen zu lassen, damit unser Kind die TGP-Behandlung am Universitätsklinikum Tübingen erhalten kann? Mit diesem Schreiben könnten wir dann beim französischen Ministerium für soziale Absicherung eine finanzielle Unterstützung für diese Behandlung beantragen. Sollte die finanzielle Unterstützung nicht vollumfänglich sein, können wir den Differenzbetrag selbst abdecken. Laut Professor Poets hat seine Abteilung bereits Kinder aus anderen europäischen Ländern wie Österreich und Ungarn behandelt, so dass ein Aufnahmeverfahren für Patienten aus der Europäischen Union besteht. Wir würden uns freuen, Sie zwecks eines Informationsaustausches über das Überweisungsverfahren, in direkten Kontakt mit Professor Poets zu bringen.“
Französisches Original:
„De ce fait, nous souhaiterions vous demander:
1. Si l’appareil ‘Tübingen Palatal Plate (TPP)’ est disponible en France?
2. Si l’appareil ‘Tübingen Palatal Plate (TPP)’ n’est pas disponible en France, serait-il possible de nous fournir une lettre de référence afin que notre enfant puisse recevoir le TPP à l’hôpital universitaire de Tübingen. Cette lettre nous permettra de faire une demande particulière à la sécurité sociale pour un support financier de prise en charge. Bien que si ce support financier n’est pas total, nous sommes en mesure de couvrir la différence. D’après le Professeur Poets, son département a déjà traité des enfants d’autres pays européens comme l’Autriche et la Hongrie, donc il existe une procédure pour admettre des patients membres de l’Union Européenne. Nous serions heureux de pouvoir vous mettre en relation directement avec le Professeur Poets afin d’échanger amplement sur la procédure de transfert.“
Am Montag, den 10. April 2017, sprachen wir telefonisch mit Dr. Abadie über den Gesundheitszustand unseres Kindes Lysiane. Dr. Abadie erklärte, dass sie Dr. Poets aus Tübingen und seine Arbeit bereits kenne. Hinsichtlich der TGP-Behandlung teilte uns Dr. Abadie mit:
„Ich kenne dieses Verfahren und ich kenne Professor Poets. Es ist ein Verfahren, das funktioniert. Es funktioniert, das ist unbestreitbar. „
Französisches Original:
„Je connais cette technique et je connais le Professor Poets. C’est une technique qui marche – ça marche, c’est indiscutable.“
Dr. Abadie bestätigte ebenfalls, dass dieses medizinische Gerät, die Tübinger Gaumenplatte, in Frankreich, England oder in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht erhältlich ist. Diese Vorrichtung wird für jeden einzelnen Patienten nur in Deutschland von einem deutschen Team medizinischer Fachkräfte mit hochspezialisierter Technik, die besonderes Fachwissen erfordert, angefertigt. Dr. Abadie erklärte uns:
„Die TGP-Behandlung ist keine Pauschalbehandlung. Sie ist örtlich beschränkt und wird nur in Deutschland durchgeführt. Sie müssen für diese Behandlung nach Deutschland gehen.“
Französisches Original:
„Le TPP n’est pas un traitement généralisé. C’est très local, c’est fait qu’en Allemagne. Il faut aller en Allemagne pour ce traitement.“
Gegen Ende des Telefongesprächs vom 10. April fragten wir Dr. Abadie, ob sie uns dabei helfen könnte, diese Behandlung zu erhalten. Sie sagte uns, dass wir „völlige Freiheit haben“ („vous avez toute la liberté“). Als wir dies von Dr. Abadie, der Leiterin des französischen Referenzzentrums für Pierre-Robin-Sequenz, hörten, waren wir als Eltern sehr beruhigt. Es war beruhigend, weil sie frankreichweit die Top-Expertin für Pierre-Robin-Sequenz ist. Sie hatte uns nicht nur die medizinische Wirksamkeit der TGP-Behandlung mit absoluter Sicherheit bestätigt, sie kannte sogar Dr. Poets. Und es beruhigte uns auch, weil unser Kind an einer seltenen Krankheit leidet, die unter etwa 10.000 Babys nur eines betrifft. Diese seltene Erkrankung erfordert hochspezialisiertes Wissen und Fachkompetenz – doch entsprechende Experten sind dünn gesät, und Orphanet konnte in Lyon, wo Lysiane behandelt wurde, kein Kompetenzzentrum für diese seltene Erkrankung finden. Deshalb waren wir sehr dankbar, mit Dr. Abadie sprechen zu können.
Wir haben Dr. Abadie während dieses Telefonats am 10. April gegenüber ausdrücklich erwähnt, dass Orphanet kein Pierre-Robin-Sequenz-Kompetenzzentrum in unserem Wohnbezirk Lyon auflistet. Dr. Abadie versicherte uns, dass dies kein Problem sei. Sie fragte uns, wer für die Neonatologie in Lysianes Krankenhaus verantwortlich wäre. Wir informierten Dr. Abadie daraufhin, dass Dr. Picaud die Neonatologie unseres Krankenhauses leiten würde. Sie meinte, dass sie Dr. Picaud kontaktieren würde.
Das Obenstehende beschreibt unseren anfänglichen, beruhigenden Kontakt mit Dr. Abadie.
Leider erwiesen sich unsere anschließenden Bemühungen mit Dr. Abadie als bemerkenswert anders. Hinsichtlich der medizinisch als wirksam erwiesenen TGP-Behandlung hatte sie uns versichert, dass „wir völlige Freiheit haben“ („vous avez toute la liberté“). Erst Wochen später haben wir erfahren müssen, was dieser Satz wirklich bedeutet: „Sie können tun, was immer Sie möchten; Sie können jedenfalls versuchen zu tun, was immer Sie möchten. Aber erwarten Sie nicht einen Moment Hilfe von meiner Seite.“ Insgesamt baten wir Dr. Abadie hinsichtlich der TGP-Behandlung fünf Mal um Hilfe:
- in der oben beschriebenen E-Mail vom 7. April;
- während des Telefonats vom 10. April, wie oben beschrieben;
- in einer E-Mail, die meine Partnerin an sie schickte, als wir von einer Reise nach Tübingen zurückkamen, bei der wir Dr. Poets besuchten, um mehr über die TGP-Behandlung zu erfahren (sie hat nie geantwortet);
- in einer weiteren E-Mail, die einen detaillierten Antrag enthielt, den wir gemeinsam mit unserem S2-Antrag bei der L’Assurance Maladie eingereicht hatten, um die TGP-Behandlung zu beantragen (sie hat nie geantwortet);
- auf dem Postweg in einem Brief, den wir direkt an sie am Necker-Krankenhaus in Paris per Einschreiben mit Rückschein geschickt haben („une lettre recommandée avec avis de réception“).
Dr. Abadie wusste, dass Orphanet kein Kompetenzzentrum in Lyon ausfindig machen konnte, und wir damit nicht in der Lage sein würden, von unseren Ärzten vor Ort das für unseren S2-Antrag benötigte ärztliche Attest zu erhalten; damit wusste sie auch, dass wir uns vollständig und absolut auf sie verließen.
Dr. Abadie hat, indem sie unsere Bitte um ein ärztliches Attest und schließlich all unserer E-Mails vollständig ignorierte, effektiv daran gehindert, überhaupt unseren Antrag bei der L’Assurance Maladie einreichen zu können. Hätte uns Dr. Abadie in unserem Telefonat am 10. April gesagt: „Ich werde Ihnen nicht das von Ihnen gewünschte ärztliche Attest ausschreiben“, hätten wir niemals drei Wochen damit zugebracht, diesem Attest hinterherzurennen. Wir hätten sofort gewusst, dass das Warten auf ein ärztliches Attest von Dr. Abadie sinnlose Zeitverschwendung ist und diese Zeit sinnvoll nutzen können, um andere Pläne zu verfolgen.
Schließlich war die einzige Möglichkeit, Dr. Abadie zu überhaupt irgendeiner schriftlichen Stellungnahme zu bewegen, das von uns übersandte Einschreiben per Rückschein. Das ist bedauernswert. Dr. Abadie ist Leiterin des Pierre-Robin-Referenzzentrum am Necker-Krankenhaus in Frankreich, das von der französischen Regierung finanziert wird. Zum Leitbild des Pierre-Robin-Referenzzentrums am Necker-Krankenhaus gehört die „Erleichterung des Zugangs zur Patientenversorgung“ („Facilitation de l’accès aux soins des patients“). Als Eltern eines Kindes, das an einer seltenen Erkrankung leidet, hätten wir nicht dazu gezwungen sein sollen, ein Einschreiben zu schicken, um schließlich eine Antwort von Dr. Abadie bezüglich unserer Anfrage des S2-Attests zu erhalten.
Des Weiteren hatte uns Dr. Abadie während unseres Telefonats am 10. April versichert, dass sie mit Dr. Picaud, dem Leiter der Neonatologie in unserem Krankenhaus in Lyon, in Kontakt treten würde. Wir dachten, dies wäre gleichbedeutend mit einer Beauftragung der Verlegung von Lysiane aus der Neonatologie in Lyon in das Tübinger Krankenhaus, damit unsere Tochter dort die von uns gewünschte, medizinisch nachgewiesene TGP-Behandlung erhalten konnte. Bei einem Treffen mit Dr. Picaud am Freitag, den 21. April 2017, erklärte uns dieser jedoch eindeutig, dass er nicht das für unseren S2-Antrag notwendige Attest ausstellen könnte. Dies wäre nur durch Dr. Abadie möglich.
Zusätzlich zu den fünf verschiedenen Versuchen mit Dr. Abadie, baten wir auch unsere Ärzte vor Ort in Lyon um ihre Mithilfe. Dabei drückten wir stets unser großes Interesse an der medizinisch nachgewiesenen TGP-Behandlung für Lysianes seltene Krankheit aus:
- Montag, 3. April, Treffen mit Dr. Hays;
- Dienstag, 4. April, Treffen mit dem Chirurgen Dr. Gleizal;
- Mittwoch, 5. April, Treffen mit Dr. Mory Thomas;
- Mittwoch, 5. April, E-Mail an Dr. Franco;
- Donnerstag, 6. April, Treffen mit Dr. Ragouilliaux;
- Freitag, 7. April, zweite E-Mail an Dr. Franco;
- Freitag, 7. April, Treffen mit Dr. Mory Thomas;
- Dienstag, 12. April, Treffen mit Dr. Gleizal und Dr. Mory Thomas;
- Freitag, 14. April, weiteres Gespräch mit Dr. Mory Thomas.
Am Dienstag, den 18. April, reisten wir nach Tübingen, um uns persönlich mit Dr. Poets und seinen Kollegen zu treffen, ihre Abteilung zu besuchen und mehr über die TGP-Behandlung zu erfahren. Wir schauten uns die Tübinger Gaumenplatte direkt im Einsatz bei einem drei Wochen alten Baby an, das am 28. März, einen Tag vor Lysiane, geboren wurde. Dieses Baby hatte Pierre-Robin-Sequenz, schlief aber nicht in der gefährlichen Bauchlage. Stattdessen schlief es ganz normal auf dem Rücken, wie jedes andere Baby auch und hatte dennoch keinerlei Atemprobleme. Dies beeindruckte uns sehr. Denn für Kinder, die an Pierre-Robin-Sequenz leiden, gestaltet sich das Atmen in der Rückenlage am Schwierigsten. Besagtes Baby wurde am gleichen Tag aus dem Krankenhaus entlassen, an dem wir dort ankamen. Wir trafen uns mit dessen Eltern, einem Paar, das aus Österreich gekommen war, damit ihr Kind von der TGP-Behandlung profitieren konnte. Dieser Besuch versorgte uns mit weiteren Informationen und beeindruckte uns zutiefst. Dr. Poets versicherte uns außerdem, dass er bereit sei, Lysiane die TGP-Behandlung zukommen zu lassen.
Als wir von dieser Tübingen-Reise zurück nach Frankreich kamen, trafen wir uns einige Male mit Dr. Picaud; das erste Mal am oben beschriebenen 21. April. Nachdem Dr. Picaud uns mitgeteilt hatte, dass er das ärztliche Attest, das wir für unseren S2-Antrag benötigten, nicht ausschreiben könne, sondern nur Dr. Abadie, beschlossen wir, Dr. Abadie ein letztes Mal, per Einschreiben, zu kontaktieren.
Schließlich haben wir die Hoffnung aufgegeben, Hilfe von Dr. Abadie in Paris oder anderen Ärzten in Lyon für unseren S2-Antrag zu erhalten. Wir begannen selbst mit den Verlegungsvorbereitungen für Lysiane von Lyon nach Tübingen, indem wir uns Geld von unserer Familie liehen. Das von uns festgelegte Abreisedatum war der Dienstagmorgen des 2. Mai, da am Montag, dem 1. Mai Nationalfeiertag (Maifeiertag) war. Dr. Abadie wusste, dass wir am Dienstag, den 2. Mai, nach Tübingen abreisen würden. Denn, obwohl sie unsere Bitte bezüglich des S2-Attests ignorierte, stand sie während der gesamten Zeit in regelmäßigem Kontakt mit Dr. Picaud. Letztendlich schickte sie uns eine Antwort auf den Brief, den wir ihr per Einschreiben geschickt hatten.
Doch Dr. Abadies Antwort enthielt kein ärztliches Attest. Stattdessen schrieb sie eine einfache E-Mail, die sie am Freitag, den 28. April, um 16.20 Uhr abschickte; weniger als eine Stunde vor Beginn des langen Mai-Wochenendes. In ihrer E-Mail bestätigte Dr. Abadie schließlich schriftlich, dass die TGP-Behandlung wirksam ist; sie bestätigte auch, dass diese nur in Deutschland zur Verfügung steht. Sie fügte jedoch weiterhin hinzu:
„Wir verfügen in Frankreich über eine ebenso wirksame, alternative Strategie zur Behandlung der Obstruktion der oberen Atemwege. Diese wird in unserer Studie beschrieben: „Continuous Positive Airway Pressure for Upper Airway Obstruction in Infants with Pierre Robin Sequence (CPAP für die Obstruktion der oberen Atemwege bei Säuglingen mit Pierre-Robin-Sequenz)“. Amaddeo A, Abadie V, Chalouhi C, Kadlub N, Frapin A, Lapillonne A, Leboulanger N, Garabédian EN, Picard A, Fauroux B. Plast Reconstr Surg. 2016 Feb; 137(2):60912.“
Französisches Original:
„Nous avons en France une stratégie alternative efficace sur le traitement de l’obstruction ventilatoire, comme en témoigne également nos publications, Continuous Positive Airway Pressure for Upper Airway Obstruction in Infants with Pierre Robin Sequence. Amaddeo A, Abadie V, Chalouhi C, Kadlub N, Frapin A, Lapillonne A, Leboulanger N, Garabédian EN, Picard A, Fauroux B. Plast Reconstr Surg. 2016 Feb; 137(2):60912.“
Diese E-Mail von Dr. Abadie, Frankreichs führender Pierre-Robin-Sequenz-Expertin, in der sie darauf hinweist, dass Continuous Positive Airway Pressure (CPAP) ebenso wirksam ist wie die TGP-Behandlung, bildete die Grundlage für die Ablehnung unseres S2-Antrags durch die L’Assurance Maladie.
Indem sie uns ihre Nachricht am Freitag um 16.20 Uhr schickte, sorgte Dr. Abadie dafür, dass wir keine Möglichkeit hatten, unseren S2-Antrag vor unserer Abreise nach Tübingen am Dienstagmorgen, bei der L’Assurance Maladie einzureichen. Das Büro der L’Assurance Maladie als Behörde ist natürlich an einem Samstag geschlossen – es würde jedoch auch am Montag, den 1. Mai und damit Maifeiertag, nicht geöffnet haben. Somit mussten wir nach Tübingen reisen, bevor die L’Assurance Maladie überhaupt unseren S2-Antrag erhalten hatte, was unsere Aussichten auf die S2-Genehmigung noch mehr schmälerte.
Die L’Assurance Maladie muss innerhalb von maximal 2 Wochen auf einen S2-Antrag reagieren. Diese Frist beginnt jedoch erst dann, wenn der S2-Antrag des Patienten bei ihnen eingegangen ist. Wir hatten Dr. Abadie am 7. April 2017 schriftlich um ein ärztliches Attest gebeten und hatten die Einreichung unseres S2-Antrags einzig deswegen verschoben, weil wir auf ihre Antwort warteten. Diese schriftliche Antwort, eine E-Mail ohne das ärztliche Attest, schickte sie uns am Freitag, den 28. April – volle drei Wochen später. Dr. Abadie hätte innerhalb dieser drei Wochen entweder ein ärztliches Attest vorbereiten, oder alternativ, uns ehrlich und direkt darüber informieren können, dass sie unter keinen Umständen dazu bereit ist, ein ärztliches Attest auszustellen. Indem sie uns drei Wochen auf ihre E-Mail vom Freitag, dem 28. April, warten ließ, verhinderte Dr. Abadie, dass wir unseren Antrag überhaupt bei L’Assurance Maladie einreichen konnten.
Gerade im Hinblick auf diese seltene Erkrankung sind 3 Wochen eine sehr lange Zeit. Kleinkinder mit Pierre-Robin-Sequenz leiden vor allem in den ersten Lebensmonaten sehr unter der Blockierung der oberen Atemwege, die zahlreiche, schädliche Auswirkungen hat. Zum einen wird die „Atemarbeit“ erheblich erschwert – das Baby benötigt seine gesamte Energie, um genug Luft zu bekommen. Diese erhöhte „Atemarbeit“ kann man sich folgendermaßen vorstellen: Zwingt man jemanden, den ganzen Tag durch einen kleinen, engen Strohhalm zu atmen, kann diese Person das sicherlich tun und überlebt auch. Da sie aber dazu gezwungen ist, durch diesen kleinen, engen Strohhalm zu atmen, wird die „Atemarbeit“ erheblich erschwert. Dies führt zu einer enormen Belastung des Herzen, der Lungen, des Kreislaufs und des Nervensystems dieser Person, da die Blockierung der oberen Atemwege Unwohlsein, Angst und manchmal sogar Panik auslöst. Zu sehen, wie unsere gerade geborene Tochter Lysiane unter diesen Atembeschwerden litt, war für uns eine Qual.
Darüber hinaus kann eine Blockierung der oberen Atemweg zu Hypoxie (Sauerstoffmangel) und Hyperkapnie (überhöhte Kohlendioxidsättigung, auch Hypokarbie genannt) führen. Sowohl Hypoxie als auch Hypokapnie begünstigen Hirnschäden. Eine medizinische Studie über Pierre-Robin-Sequenz, „Mandibular distraction osteogenesis for neonates with Pierre Robin sequence and airway obstruction (Mandibuläre Distraktionsosteogenese für Neugeborene mit Pierre-Robin-Sequenz und Atemwegsobstruktion)“ erklärt:
„Bei Patienten mit mäßiger bis schwerer Atemwegsobstruktion ist eine intensive Atemwegsbehandlung erforderlich, um Hypoxie- und Hypokarbie-Episoden vorzubeugen, die andernfalls zu erheblichen, kognitiven Beeinträchtigungen führen können.“
Englisches Original:
„Intensive management of the airway is mandatory in patients with moderate to severe airway obstruction in order to prevent episodes of hypoxia and hypercarbia, which can lead to significant cognitive impairment.“
Als Lysiane geboren wurde, war sie überhaupt nicht in der Lage zu atmen – sie musste auf die Reanimationsstation für Neugeborene verlegt werden („Réanimation Néonatale“), um ein Höchstmaß an Notfallversorgung zu erhalten. Auch Lysianes Krankenbericht des Croix-Rousse-Krankenhauses bestätigt, dass sie in den Wochen nach ihrer Geburt an Hypoxie und Hyperkapnie litt:
„Sauerstoffentsättigung [Hypoxie] mit Anzeichen des Kampfes“
Französisches Original:
„désaturations avec signes de lutte“
„Atmungsermüdung mit Anzeichen von Kampf und Hyperkapnie“
Französisches Original:
„fatigue respiratoire avec signes de lutte et hypercapnie“
Wir wussten, dass Lysianes erste Monate kritisch waren und langfristige Auswirkungen für ihr gesamtes Leben haben würden. Wir wussten auch, dass in Bezug auf die TGP-Behandlung der Zeitfaktor entscheidend ist. Die TGP-Behandlung besteht aus zwei wichtigen Phasen. In der ersten Phase verbringt das Baby ungefähr 2 bis 3 Wochen im Krankenhaus. Während dieser Zeit wird ein extra für das Baby angefertigtes TGP-Gerät in dessen Mund eingesetzt und fortan getragen. Das Kind wird dabei genau überwacht. Im Anschluss an diese 2-3 Wochen wird erfolgt die Entlassung aus dem Krankenhaus und das Kind geht mit den Eltern nach Hause, wo es wie jedes normale Baby auch lebt – ohne Beatmungsgeräte oder ähnliche Apparate. In der zweiten Phase, zu Hause, trägt das Kind einfach die TGP in seinem Mund. Abhängig vom Zustand des Kindes erfolgt dies über einen Zeitraum von 3 bis 5 Monaten. Einmal am Tag entfernen die Eltern die TGP, um sie mit einer normalen Zahnbürste zu reinigen; ähnlich wie bei einer Zahnprothese. Am Ende dieser zweiten Phase ist die TGP-Behandlung abgeschlossen. Das TGP-Gerät hat seine Arbeit getan, und das Kind muss diese Vorrichtung nie wieder tragen.
Entscheidend dabei ist, dass dieser zweistufige Prozess – die 2 bis 3 Wochen Krankenhausaufenthalt und das anschließende Tragen der TGP für 3 bis 5 Monate – abgeschlossen sein sollte, bevor die Zähne des Babys zu wachsen beginnen. Dies geschieht für gewöhnlich im Alter von ca. 6 Monaten. Sobald die Zähne zu wachsen beginnen, müsste das TGP-Gerät ständig angepasst werden, um sich an die verändernde Zahnanatomie des Kleinkinds anpassen zu können, was äußerst unpraktisch wäre. Wartet man also zu lange mit der TGP-Behandlung, kann es sein, dass es an einem gewissen Punkt zu spät für diese Behandlungsmethode ist. Damit ein an Pierre-Robin-Sequenz leidendes Kind das volle Potenzial der medizinisch nachgewiesenen Vorteile der TGP genießen kann, sollte der Säugling die TGP-Behandlung so schnell wie möglich nach der Geburt erhalten. Der Zeitfaktor war also entscheidend – und doch mussten wir volle drei Wochen warten, bis wir eine E-Mail von Dr. Abadie erhielten.
Da Dr. Abadie uns nicht das von uns angeforderte ärztliche Attest geschickt hatte, blieb uns nichts anderes übrig, als die E-Mail von Dr. Abadie auszudrucken und sie zusammen mit den anderen von uns erstellten Dokumenten und dem S2-Antrag bei der L’Assurance Maladie einzureichen, damit die grenzüberschreitende Versorgung für die seltene Erkrankung unserer Tochter gesichert wäre. Dies erfolgte am Dienstag, den 2. Mai, weil die Post am Montag, den 1. Mai, geschlossen war.
Atembeschwerden bis zu unserer Abreise nach Deutschland
In unserem S2-Antrag an die L’Assurance Maladie, in dem wir um Genehmigung für die TGP-Behandlung in Deutschland baten, fügten wir auch ein Standarddossier bei. Darüber hinaus veröffentlichten wir aber auch ein Video von unserer Tochter Lysiane, das ihre Atembeschwerden im französischen Krankenhaus veranschaulicht und teilten dieses mit der L’Assurance Maladie. Dieses Video finden Sie hier:
http://avantetapres.com/
Das Video zeigt deutlich, dass Lysiane nach wochenlanger Beatmungsunterstützung und rund um die Uhr Intensivbehandlung in Lyon weiterhin mit Atembeschwerden zu kämpfen hatte. Das Video „Lysiane – Pierre-Robin-Sequenz – Atembeschwerden“ wurde am Freitag, den 28. April, vier Tage vor unserer Abreise nach Tübingen, gemacht. Man kann darin genau erkennen und hören, wie Lysiane um das Atmen kämpft. Das Video macht deutlich, dass die Beatmungsunterstützung die Obstruktion der oberen Atemwege des Kindes weder beseitigt, noch das zugrunde liegende anatomische Problem, die Glossoptose, korrigiert.
Zusätzlich zu diesen klinisch sichtbaren Anzeichen einer Obstruktion der oberen Atemwege und der Schwierigkeiten beim Atmen, ergab eine Polysomnographie-Untersuchung, dass Lysiane außerdem an einem moderaten Syndrom obstruktiver Hypopnoe litt. Diese Schlafstudie wurde in Lyon am Krankenhaus Femme Mére Enfant am 26. April 2017 durchgeführt. Die Ergebnisse der Polysomnographie weisen darauf hin, dass, wenn man Lysiane auf den Rücken legte – also in die natürliche Schlafposition – und sobald sie vom Beatmungsgerät getrennt wurde – der „l’index d’apnées-hypopnées obstructives“ (Index der obstruktiven Apnoe-Hypopnoe, IAHO) – 6,5/Stunde betrug und während des REM-Schlafs auf 18,2/Stunde anstieg. Die Schlaf-Effizienz wurde durch unterbrochenen Schlaf reduziert (Index der Erregungszustände plus Mikroerregung, 28,4/Stunde). Bei Kindern bestätigt ein IAHO von mehr als 1,5/Stunde die Diagnose einer obstruktiven Schlafapnoe, die eine Behandlung erfordert.
Am Freitag, den 28. April, erklärte Dr. Mainguy, der die Polysomnographie durchgeführt hatte, dass er eine Durchflusserhöhung von Lysianes Beatmungsgerät auf 6 l/min empfehlen würde, sollte Lysiane in Frankreich bleiben. Unabhängig davon konnten aber weder Dr. Mainguy noch einer der anderen Ärzte auf Lysianes Intensivstation, Angaben zu einem ungefähren Entlassungstermin aus dem Krankenhaus machen. Unsere einzige Hoffnung als Eltern, war die Möglichkeit von „l’hospitalisation à domicile“ (HAD), was wie ein Krankenhausaufenthalt zu Hause ist. Dazu hätten wir das Beatmungsgerät und die gesamte zugehörige Ausrüstung mit nach Hause nehmen und Lysiane hätte während des Schlafens (also nicht nur nachts, sondern auch tagsüber) mit Schläuchen und einer Gesichtsmaske am Beatmungsgerät angeschlossen bleiben müssen. Damit wäre es ausgeschlossen gewesen, sie z.B. im Kinderwagen in den Park mitzunehmen.
Nach fast fünf Wochen ununterbrochenen Krankenhausaufenthalts auf der Intensivstation in Lyon wollten wir unser Kind aus dem Krankenhaus holen, damit wir endlich, wie jede normale Familie auch, zusammen sein konnten. Gleichzeitig waren wir aber nicht bereit, das Krankenhaus und die gesamte Ausrüstung nach Hause zu holen und unser Zuhause in eine Intensivstation zu verwandeln. Mit der TGP-Behandlung wäre ein langfristiger Krankenhausaufenthalt völlig unnötig.
Abfahrt nach Tübingen zur TGP-Behandlung
Am 2. Mai 2017 haben wir Lysiane vom Lyoner Croix-Rousse-Krankenhaus in das Universitätsklinikum Tübingen in Deutschland überführt, um dort die TGP-Behandlung zu erhalten. Trotz der Tatsache, dass die TGP-Behandlung in Deutschland seit über 10 Jahren regelmäßig angewendet wird und deren Wirksamkeit in zahlreichen Peer-Review-Studien medizinisch nachgewiesen wurde, glauben wir, dass unsere Tochter Lysiane das erste französische Baby überhaupt ist, das die TGP-Behandlung erhalten hat. Wir gehen auf diese bemerkenswerte Tatsache im Abschnitt „Rechtliche Analyse“, später in diesem Dokument, noch näher ein.
Ablehnungsschreiben der L’Assurance Maladie
Die L’Assurance Maladie lehnte unseren Antrag auf Genehmigung für die grenzüberschreitende medizinische Versorgung der seltenen Krankheit unseres Kindes, Lysiane, ab. Im beigefügten Schreiben der L’Assurance Maladie heißt es:
„… die Abteilung für medizinische Bewertung hat festgestellt, dass:
die gleiche Behandlung oder eine ebenso wirksame Behandlung in Frankreich, ohne ungebührliche Verzögerung, erhalten werden kann. Auf dieser Grundlage informieren wir Sie darüber, dass die medizinische Versorgung in Frankreich innerhalb der erforderlichen Frist erbracht werden kann. „
Französisches Original:
„… le service du contrôle médical a estimé:
qu’un traitement identique ou présentant le même degré d’efficacité peut être obtenu en temps opportun en France. A ce titre, nous vous indiquons que ces soins peuvent être dispensés en France dans le délai requis.“