BRIEF AN PRÄSIDENT MACRON

TEIL 1: HINTERGRUNDINFORMATIONEN

23. Februar 2018

Monsieur le Président de la République
Palais de l’Elysée
55 Rue du Faubourg Saint-Honoré
75008 Paris
France

Re: Lysiane Pakter – Französisches Kind mit einer seltenen Krankheit

Wenn ein in Frankreich neugeborenes Kind, das unter einer seltenen Krankheit leidet und auf der Intensivstation bewegungslos an ein Beatmungsgerät angeschlossen liegt, nicht das Recht auf eine hochspezialisierte, medizinisch nachgewiesene und kostengünstige Behandlung für diese seltene Krankheit in einem anderen EU-Mitgliedsstaat hat – wer genau in Frankreich hat dann das Recht auf eine grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung?

Sehr geehrter Präsident Macron,

Meine Lebensgefährtin und ich bitten um Ihr dringendes Eingreifen in einer Angelegenheit, die unsere Tochter Lysiane betrifft, die unter der seltenen Krankheit Pierre-Robin-Sequenz leidet. In unserem Schreiben erfahren Sie zudem von unserem anhaltenden Kampf um den Erhalt der S2-Genehmigung – die offizielle Genehmigung der L’Assurance Maladie für eine hochspezialisierte, medizinisch nachgewiesene und kostengünstige Behandlung mit der Tübinger Gaumenplatte in Deutschland. Mit unserer Anfrage bitten wir Sie um Ihr Eingreifen, damit wir dieses S2-Formular erhalten, welches uns zu Unrecht verweigert wurde.

Das französische Referenzzentrum für diese seltene Krankheit hat bestätigt, dass die TGP-Behandlung in Frankreich nicht zur Verfügung steht und einzig im EU-Mitgliedsstaat Deutschland durchgeführt werden kann. Trotz dieser Tatsache hat die L’Assurance Maladie unseren Antrag auf diese Behandlung zurückgewiesen und uns die S2-Genehmigung verweigert. All unseren Bemühungen zum Trotz, bleibt die L’Assurance Maladie bei ihrer unbegründeten Entscheidung. Aus diesem Grund haben wir uns letztlich dafür entschieden, uns mit einem von Herzen kommenden Appell an Sie zu wenden. Wir als Eltern möchten diese bürokratischen Tortur mit der L’Assurance Maladie endlich beendet wissen, damit wir unsere Energien dorthin richten können, wo sie hingehören: zu unserem Kind Lysiane, das unter einer seltenen Krankheit leidet.

Die Ablehnung der L’Assurance Maladie unseres Antrags auf diese sehr spezielle Behandlungsmethode, verstößt gegen die 2011/24/EU-Richtline über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und das Grundprinzip der Dienstleistungsfreiheit unter Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Sie verletzt darüber hinaus die vier EU-Grundfreiheiten – den freien Warenverkehr, die Dienstleistungsfreiheit, die Personenfreizügigkeit sowie den freien Kapital- und Zahlungsverkehr und untergräbt damit ein wichtiges, EU-politisches Ziel, welches den Mittelpunkt des Europäischen Projekts bildet: die Schaffung eines einheitlichen EU-Binnenmarktes. Deshalb kann diese Ablehnung unmöglich aus irgendwelchen politischen Gründen als „notwendig und angemessen“ gerechtfertigt werden. Unsere Liste an Privatpersonen und internationalen Organisationen, die unseren Fall sorgfältig analysiert haben und offen mit unserer Position übereinstimmen, erweitert sich stetig. In der Anlage finden Sie verschiedene Unterstützungsschreiben, beginnend auf Seite 4. Zu unseren Verbündeten gehören:

  1. Das SOLVIT-Netzwerk der Europäischen Kommission, das mit unserer Rechtslage, laut Fall 2569/17/DE, übereinstimmt;
  2. Parlamentsmitglied und Repräsentant unseres Wohnbezirks in Frankreich, Herr Bruno Bonnell, der Assemblée Nationale. Herr Bonnell ist aktiver Verteidiger von Patientenrechten und Menschen mit Behinderungen. Auch er unterstützt uns in unserem Widerspruch;
  3. EURORDIS, einer der größten, nicht-staatlichen Zusammenschlüsse von Patientenorganisationen für seltene Erkrankungen in der EU. EURORDIS hat zugesagt, uns vor Gericht zu unterstützen und, wenn nötig, bis zum Europäischen Gerichtshof zu gehen;
  4. Ein Mitglied des Europäischen Parlaments, Frau Françoise Grossetête, die über umfangreiche Erfahrungen mit der EU-Richtlinie 2011/24 über grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung verfügt. Frau Grossetête hat der französischen Gesundheitsministerin, Frau Agnès Buzyn, ein offizielles Unterstützungsschreiben übermittelt;
  5. Das Europäische Patientenforum, eine der größten Dachorganisationen für Patientenvertretungen in der gesamten EU und wichtigster Interessenvertreter bei der Ausarbeitung der Richtlinie von 2011. Das Europäische Patientenforum hat Ihnen, Präsident Macron, ein offizielles Unterstützungsschreiben übersandt;
  6. ein internationales Netzwerk bestehend aus Juraprofessoren, das sich auf die EU-Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungsrecht spezialisiert hat. Auch sie sind der Auffassung, dass die Ablehnung durch die L’Assurance Maladie unbegründet ist.

Wir erklären in diesem Dokument, dass die in Frankreich angewendete Behandlungsmethode für die seltene Krankheit unserer Tochter, die Pierre-Robin-Sequenz, darin besteht, dass das Kind im Krankenhaus an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist. Da die Beatmungsunterstützung generell sehr lange Krankenhausaufhalte erfordert, versursacht die in Frankreich zur Verfügung stehende Behandlung dem Gesundheitssystem immense Kosten und nimmt wertvollen Platz auf Intensivstationen in Anspruch. Die hochspezialisierte deutsche TGP-Behandlungsmethode hingegen behebt nachweislich die Behinderung der oberen Atemwege, die mit dieser seltenen Krankheit in Verbindung steht. Die TGP-Behandlung befreit das Kind vom Beatmungsgerät, ohne dass eine Operation oder ein langer Krankenhausaufhalt nötig ist. Damit ist diese Behandlungsform ein kostengünstiger, medizinischer Durchbruch hinsichtlich dieser seltene Krankheit.

Die französische Behandlungsmethode hat also nicht nur den Nachteil, dass das Kind am Beatmungsgerät angeschlossen bleiben muss – was die Mobilität und Lebensqualität erheblich einschränkt – sie macht darüber hinaus auch in finanzieller Hinsicht keinen Sinn. Die L’Assurance Maladie in Frankreich verweigert einem französischen Kind bewusst den Zugang zu einer medizinisch nachgewiesenen und sinnvollen Behandlung in Deutschland, die die Atmungsfähigkeiten und Lebensumstände des Kindes dramatisch verbessern würde – und welche darüber hinaus die Behandlungskosten reduziert, da ein langfristiger Aufenthalt im Krankenhaus wegfällt. Dies ist ebenso irrational, wie den E-Mail-Versand einzuführen, die Menschen aber gleichzeitig dazu zu zwingen, teure und umständliche Faxgeräte zu nutzen.

Hier stehen die Leben und das Leiden vieler Neugeborener auf dem Spiel. Die Ablehnung der L’Assurance Maladie entbehrt nicht nur jeder Logik – sie ist auch unzumutbar. Kein Arzt oder Beamter mit ethischen Werten, sollte ein unter einer seltenen Krankheit leidendes Kind dazu zu zwingen, eine Langzeit-Intensivbehandlung – einschließlich aller damit verbundenen Belastungen – zu erdulden, wenn in einem direkt benachbarten EU-Mitgliedstaat eine erfolgreiche und günstige Behandlungsmethode zur Verfügung steht, die dem Kind das Beatmungsgerät erspart. Stattdessen kann das Kind nach Hause zu seinen Eltern geschickt werden, wo es eigentlich hingehört. Statt Gott zu spielen, sollten Ärzte ihren Patienten den Zugang zu bewährten Behandlungsmethoden erleichtern und nicht etwa Steine in den Weg legen. Das Recht und Wohlbefinden eines Patienten sollte immer Vorrang vor dem Ego eines Arztes haben.

Die gegenstandslose Ablehnung durch die L’Assurance Maladie ist vor allem in Zeiten des Brexits unangebracht. Der Zusammenhalt der EU ist mittlerweile zu einem zentralen Thema geworden. Jeder Mitgliedstaat sollte deshalb sorgfältig auf seine Verpflichtungen hinsichtlich sämtlicher EU-Richtlinien und Gesetze achten. „Europa hat einen wichtigen Meilenstein überwunden“, haben Sie gesagt. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, dass ein führendes EU-Mitglied wie Frankreich handelt, als würden die EU-Gesetze nur für andere Mitgliedsstaaten gelten und nicht für es selbst. Vorsätzliche Behinderung, Marktinterferenzen und mangelnde Kooperation sind keine guten Beispiele für eine funktionierende Europäische Gemeinschaft.

Darüber hinaus haben Sie den Wunsch zum Ausdruck gebracht, sowohl die französischen als auch deutschen Märkte „vollständig zu integrieren“ und „ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen Frankreich und Deutschland wiederherzustellen“. Die sinnlose Weigerung der L’Assurance Maladie, es französischen Kindern zu ermöglichen, diese bahnbrechende Behandlung in Deutschland erhalten, lässt mich an Frankreichs Engagement zur Erreichung dieser Ziele zweifeln. Wenn Frankreich nicht zu einer Zusammenarbeit mit Deutschland bereit ist, um Säuglingen in Frankreich, die unter Atemnot leiden, das Leiden zu ersparen, wird Frankreich es sehr schwer haben, an großen, internationalen Projekten zu arbeiten, die weit schwieriger und komplexer sind.

Dieser Fall wirft ein sehr viel umfangreicheres Problem auf, das Auswirkungen auf alle EU-Bürger und deren tägliches Leben hat. Wenn ein Säugling mit einer seltenen Krankheit bewegungslos auf einer Intensivstation an ein Beatmungsgerät angeschlossen liegt, nicht das Recht auf eine hochspezialisierte, medizinisch nachgewiesene und kostengünstige Behandlung seiner seltenen Krankheit in anderen EU-Mitgliedsstaaten hat – wer hat dann überhaupt das Recht auf grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung?

Herr Präsident, dieses Schreiben, seine umfangreichen Beweise sowie die Unterstützungsschreiben machen sehr deutlich, dass die Ablehnung durch die L’Assurance Maladie unbegründet ist. Meine Partnerin und ich bitten Sie daher dringend, sich dafür einzusetzen, dass Lysiane die S2-Genehmigung erhält, die ihr die L’Assurance Maladie unrechtmäßig und ohne Sinn verweigert. Wir hoffen, bald von Ihnen zu hören. Vielen Dank.

Mit freundlichen Grüßen

Philippe Pakter und █████ ███████ – die Eltern von Lysiane
2 Rue Gérard Maire
69100 Villeurbanne
France

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Medizinische Analyse Seite 33
Rechtliche Analyse Seite 62
Schlussfolgerung Seite 73