EURORDIS – Unterstützungsschreiben

Bei der Europäischen Organisation für seltene Krankheiten (EURORDIS) handelt es sich um die größte Patientenorganisation für seltene Krankheiten in der EU. EURORDIS schickte ein sehr detailliertes Unterstützungsschreiben an die L’Assurance Maladie, Frankreichs nationaler Krankenkasse, in dem sie erklären, warum auch sie der Ansicht sind, dass die Ablehnung gegen EU-Recht verstößt. EURORDIS hat zugesagt, uns, Lysianes Eltern, vor Gericht beizustehen und gemeinsam bis zum Europäischen Gerichtshof zu gehen.

Unten finden Sie eine inoffizielle Übersetzung des französischen Brieftexts ins Deutsche.

 

17. November 2017

Herr Nicolas Revel
Generaldirektor
Caisse Nationale d’Assurance Maladie
50, avenue du Professeur André Lemierre
75986 Paris Cedex 20

Betrifft: Zugang zur Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat – Kind Lysiane Pakter

Sehr geehrter Herr Generaldirektor,

EURORDIS, die Europäische Organisation für Seltene Krankheiten, verteidigt u.a. die Patientenrechte in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und im Europäischen Wirtschaftsraum.

In dieser Eigenschaft unterstützt EURORDIS Lysiane Pakters Eltern, da sich die L’Assurance Maladie weigert, ihre geplante Gesundheitsversorgung in Deutschland durchzuführen.

Während der Debatten, die vor der Verabschiedung der Richtlinie 2011/24 / EU vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung im Europäischen Parlament stattgefunden haben, hat sich EURORDIS für die Annahme der Richtlinie auf Grundlage der in Verordnung 883/2004 und dem Formular S2 festgelegten Einschränkungen ausgesprochen.

Die Unklarheit der Verordnung 883/2004 in bestimmten Situationen führte dazu, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Reihe von Rechtsentscheidungen traf. Dazu gehört z.B. der Fall 157/99, 12/07/2001, Geraets-Smits. Diese umfangreiche Rechtsprechung des EuGHs hat die europäischen Behörden dazu veranlasst, das rechtliche Vakuum durch die Verabschiedung der Richtlinie 2011/24 / EU zu schließen.

In keinem Fall sollte die nationale Umsetzung der Richtlinie bezüglich der Rechtsprechung des EuGHs einen Rückschritt darstellen. Im Geraets- Smits-Fall legte der EuGH Folgendes fest:

  • Eine vorherige Genehmigung kann nicht abgelehnt werden, wenn die Behandlung durch die internationale, medizinische Wissenschaft ausreichend geprüft und validiert wurde, und
  • Die Vorabgenehmigung kann abgelehnt werden, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung, ohne unnötige Verzögerung durch eine Einrichtung erlangt werden kann, die mit der Krankenkasse, der die versicherte Person angehört, eine Vereinbarung getroffen hat (Abwesenheit der medizinischen Notwendigkeit)

Umsetzung der Richtlinie im französischen Recht

Das Gesetz über die öffentliche Gesundheit, Artikel R160-2, geändert durch die Verordnung Nr. 2017-736 vom 3. Mai 2017, Art. 1, besagt:

II. Die Genehmigung kann nicht abgelehnt werden, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

  1. Die Absicherung der angestrebten medizinischen Behandlung ist in den französischen Vorschriften vorgesehen;
  2. Die angestrebte Behandlung ist, basierend auf dem Gesundheitszustand des Patienten, angemessen;
  3. Die gleiche oder eine ebenso wirksame Behandlung kann, unter Berücksichtigung des aktuellen Gesundheitszustands des Patienten und dessen wahrscheinlichen Verlaufs, nicht innerhalb eines medizinisch akzeptablen Zeitrahmens in Frankreich erreicht werden.

In der Angelegenheit Lysiane

Zu Punkt 1: Die medizinische Versorgung, die operative Eingriffe erfordert (Unterkieferdistraktionsosteogenese, Unterkiefertraktion, Luftröhrenschnitt, Einführung eines Nasenrachen-Tubus…), um die Pierre-Robin-Sequenz zu behandeln, ist in den französischen Gesundheitsbestimmungen vorgesehen. Die Gemeinde hat dafür gesorgt, dass Säuglinge, die mit diesem medizinischen Syndrom geboren wurden, behandelt werden. Eine Methode – die Labioglossopexie – beinhaltet das Annähen der Zungenspitze des Kindes an dessen Unterlippe. Diese Methode hat eine hohe Ausfallrate, da die Zunge oder die Lippe des Kindes oft reißen. Wenn solch eine Behandlung von den französischen Vorschriften abgedeckt wird, sollte eine alternative, nicht-operative Methode, wie die Tübinger Gaumenplatte mit integriertem Sporn (TGP), die den Patienten weder behindert und vor allem nicht annähernd so barbarisch ist, es mindestens genauso wert sein, abgedeckt zu werden.

Zu Punkt 2: Die im Anhang dieses Schreibens aufgeführten medizinischen Studien bestätigen die bessere Wirksamkeit der in Deutschland angebotenen TGP-Behandlung.

Zu Punkt 3: Das Kind sollte kurz nach der Geburt mit dem TGP-Gerät ausgestattet werden. Dieser Zeitraum ist derzeit zu kurz, um dem französischen Gesundheitssystem zu ermöglichen, die Technik zu erlernen, ohne das Kind dem Risiko eines Schadens auszusetzen.

Die in Deutschland angebotene Behandlung (die Tübinger Gaumenplatte mit integriertem Sporn, TGP) behandelt die Nahrungsaufnahme- und Atmungsschwierigkeiten, die mit der Pierre-Robin-Sequenz einhergehen. Dies ist aber auch schon die einzige Übereinstimmung mit den in Frankreich vorgeschlagenen Behandlungen. Die in Frankreich angebotenen Behandlungen sind nicht ebenso wirksam: weder die mechanische Beatmungsunterstützung, die mit erheblichen Bewegungseinschränkungen für ein kleines Kind einhergeht, noch die komplexen und schmerzhaften chirurgischen Eingriffe. So wurde Lysiane 5 Wochen lang in Frankreich auf einer Intensivstation, ohne absehbaren Entlassungstermin, stationär aufgenommen. Es wurde lediglich eine eventuelle häusliche Pflege mit Beatmungsunterstützung in Aussicht gestellt.

Darüber hinaus scheinen die in Frankreich angebotenen Behandlungsmethoden weniger wirksam zu sein, als die TGP-Behandlung. Die Verfasser der prospektiven Studie (Nr. 1 im Anhang) folgern: „Diese prospektive Langzeitstudie bestätigt die Wirksamkeit der [Tübinger Gaumenplatte] zur Verbesserung der Obstruktion der oberen Atemwege und Gewichtszunahme bei Säuglingen, die mit (meist isolierter) RS aufgenommen wurden.“

Schließlich wurde die TGP von mehreren Teams getestet. Ein Drittel der Kinder, die in Deutschland mit der Pierre-Robin-Sequenz geboren wurden, profitieren bereits von dieser Behandlung (siehe die im Anhang aufgeführten medizinischen Studien).

Wenn französische Sachverständige der Ansicht sind, dass eine vergleichende Peer-Review-Studie durchzuführen wäre, bevor sie sich für die Abdeckung dieser Behandlung entscheiden, müssen wir die Idee eines direkten Vergleichs zurückweisen; das ist in ethischer Hinsicht einfach nicht mehr möglich. Vergleichende Daten aus historischen Studien erlauben jedoch bereits einen Vergleich dieser Behandlung mit anderen Behandlungsmethoden (indirekter Vergleich).

Die Autoren der oben zitierten Studie („Multicenter study on the effectiveness of the pre-epiglottic baton plate for airway obstruction and feeding problems in Robin sequence“, Poets et al., Orphanet Journal of Rare Diseases, 2017, 12:46; Multicenterstudie zur Wirksamkeit der Prä-Epiglottis-Stützenplatte bei Atemwegsobstruktion und Ernährungsproblemen in der Robin-Sequenz) weisen darauf hin. Indem man die Gewichtszunahme, die mit den verschiedenen Behandlungstechniken erreicht wird, vergleicht, kann man auch die relative Wirksamkeit der Behandlungsmethoden vergleichen.

Auf dieser Basis ist die TGP-Behandlung mindestens genauso effektiv wie die anderen Methoden, wenn nicht sogar effektiver. In jedem Fall ist die TGP-Behandlung hinsichtlich Komfort, Lebensqualität und Sicherheit des Kindes anderen Behandlungen weit überlegen.

Darüber hinaus ist das klinische Gleichgewichtsprinzip, zumindest in Deutschland, nicht mehr existent. Hier informieren Ärzte die Eltern über die verschiedenen zur Verfügung stehenden Techniken zur Behandlung dieser seltenen Krankheit. Kein Arzt wäre bereit, klinische Tests durchzuführen, bei der die jedem Kind zu verabreichende Behandlung zufällig ausgewählt wird. Denn sie sind, basierend auf dem aktuellen Kenntnisstand der verschiedenen vorhandenen Behandlungen, bereits von der Überlegenheit der TGP-Technik überzeugt. Eltern würden dies ebenfalls ablehnen.

„Ein kontrolliertes Studiendesign wäre eindeutig vorzuziehen. Dies war jedoch in den teilnehmenden Zentren nicht möglich, da das Gleichgewichtsprinzip unter den Teammitgliedern nicht mehr gegeben war. Wir haben jedoch alles Mögliche versucht, um andere potentielle, verzerrende Quellen zu minimieren und betrachten unsere Ergebnisse daher vor dem Hintergrund von Studien, die bei Patienten mit seltenen Erkrankungen durchgeführt wurden, als gültig. „

Wofür sich EURORDIS generell einsetzt

Im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinie 2011/24 / EU durch die Mitgliedstaaten hat sich EURORDIS für folgende Grundsätze ausgesprochen:

  • Wirksamkeit: Die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen müssen die Bürger bei ihren Bemühungen unterstützen. Die Verwaltungen im Gesundheitswesen müssen sich in den Dienst der Bürger stellen und diese bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen.
  • Verhältnismäßigkeit: Die Richtlinie zeigt dem Vorabgenehmigungssystem Grenzen hinsichtlich Angemessenheit und Notwendigkeit zur Erreichung des Ziels auf. Es darf kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung sein oder ein ungerechtfertigtes Hindernis für die Bewegungsfreiheit von Patienten, gemäß Artikel 8, Absatz 1, darstellen.
  • Gerechtigkeit: Das Vorabgenehmigungssystem muss dem Antragsteller die Möglichkeit geben, seinen Antrag zu stellen und Beschwerde einzulegen, wenn sein Antrag abgelehnt wurde. Die Verwaltung muss sich mit Hilfe von Experten, die mit der Krankheit vertraut sind, eingehend informieren, bevor der Antrag eines Patienten auf Gesundheitsleistungen im Ausland genehmigt oder ablehnt wird.

Im Interesse aller französischen Bürger fordert EURORDIS Sie auf, diese Grundsätze zu respektieren. Die Richtlinie wurde genau in dieser Form erlassen, damit Patienten Zugang zu den in der Europäischen Union verfügbaren, wirksamsten Behandlungen haben, auch wenn diese Behandlung in ihrem Versicherungsmitgliedstaat nicht verfügbar ist.

Experten, die Kinder mit der Pierre-Robin-Sequenz behandeln, sind der Ansicht: „Bekommt man die funktionellen Schwierigkeiten im ersten Lebensjahr gut in den Griff, ist die Prognose günstig. Nahrungsaufnahme- und Atmungsbeschwerden, genauso wie die Glossoptose, verbessern sich in den ersten 2 Lebensjahren. Das mandibuläre Wachstum korrigiert die Retrognathie innerhalb von 3 bis 6 Jahren. Die Gaumenspalte kann noch vor dem neunten Monat operativ geschlossen werden. Die neurologische Prognose dieser Kinder ist deshalb als gut zu bezeichnen. “

EURORDIS bittet Sie darum, den Fall dieses Kindes und anderer Personen in der gleichen Situation, zu prüfen, und ihnen das Zugangsrecht zu einer hochwertigen Versorgung zu erleichtern. Andernfalls könnten wichtige Möglichkeiten verpasst werden, die langfristig Auswirkungen auf das weitere Leben dieser Patienten haben.

Hochachtungsvoll

François Houÿez, Leiter der Pflegeversorgung
EURORDIS

CC: Ms. Emmanuelle Lafoux, Generaldirektorin, Caisse Primaire d’Assurance Maladie de Lyon